Dehnen

Dehnen gehört seit Jahrzehnten zu den Standardpraktiken im Fitness- und Gesundheitssport. Egal ob im Schulsport, in Fitnessstudios oder in der professionellen Trainingsplanung – kaum ein Workout endet, ohne dass am Ende eine Dehnungsroutine folgt. Besonders nach intensiven Trainingseinheiten ist das Dehnen für viele zur Gewohnheit geworden. Dabei herrscht der weitverbreitete Glaube, dass Dehnen Muskelkater verhindert oder lindert. Doch wie viel Wahrheit steckt hinter dieser Annahme?

Dehnen

In diesem Artikel nehmen wir uns die Zeit, den Mythos rund um Dehnen und Muskelkater kritisch zu hinterfragen, basierend auf aktueller wissenschaftlicher Evidenz. Außerdem werfen wir einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Dehnmethoden, ihre sinnvollen Einsatzgebiete und was tatsächlich hilft, um Muskelkater zu vermeiden oder zu reduzieren.

1. Dehnen: Tradition vs. Wissenschaft

Die Ursprünge des Dehnens lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, als Athleten bereits vor sportlichen Wettkämpfen Beweglichkeitsübungen durchführten. Mit der Zeit entwickelte sich Dehnen zu einem festen Bestandteil von Aufwärm- und Abkühlroutinen. Doch erst mit der fortschreitenden Sportwissenschaft begannen Forscher, den tatsächlichen Nutzen des Dehnens systematisch zu hinterfragen.

Besonders die Verbindung von Dehnen und Muskelkater wurde lange Zeit kaum kritisch beleuchtet. Viele Menschen dehnen sich nach dem Training in der festen Überzeugung, dadurch Muskelkater zu verhindern oder zu lindern. Doch zahlreiche Studien der letzten Jahre deuten darauf hin, dass dieser Effekt überschätzt wird.

2. Was ist Muskelkater überhaupt?

Muskelkater, in der Fachsprache als Delayed Onset Muscle Soreness (DOMS) bekannt, ist das Ergebnis von mikroskopisch kleinen Verletzungen in den Muskelfasern. Diese Mikrotraumata entstehen besonders durch exzentrische Belastungen, also Bewegungen, bei denen der Muskel sich unter Belastung verlängert (z. B. beim Bergablaufen oder beim Herablassen einer Hantel).

Die Symptome treten meist 12 bis 48 Stunden nach der Belastung auf und können mehrere Tage anhalten. Typisch sind Muskelsteifigkeit, Empfindlichkeit und eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit.

3. Der Mythos: Dehnen verhindert Muskelkater

Die Theorie hinter der Idee, dass Dehnen Muskelkater verhindert, basiert auf der Annahme, dass durch Dehnen die Durchblutunggesteigert und Muskelspannungen reduziert werden. Dies soll die Regeneration fördern und Mikroverletzungen im Muskel vorbeugen.

Doch was sagt die Forschung dazu?

Cochrane-Review (2011): In einer der größten Metaanalysen zum Thema Dehnen und Muskelkater analysierten Wissenschaftler zwölf Studien mit insgesamt über 2.500 Teilnehmern. Die Ergebnisse waren eindeutig: Dehnen vor oder nach dem Training hat keinen signifikanten Einfluss auf die Prävention oder Linderung von Muskelkater.

Studie von Herbert et al. (2011): Diese Untersuchung zeigte, dass selbst intensives Dehnen nach dem Training nur einen minimalen und klinisch nicht relevanten Effekt auf Muskelkater hatte.

Weitere Studien (2021): In einer systematischen Übersichtsarbeit zu Dehnen und Muskelregeneration kamen Forscher zu dem Schluss, dass Dehnübungen die Intensität von Muskelkater nicht beeinflussen.

Fazit: Dehnen kann zwar andere positive Effekte auf den Bewegungsapparat haben, ist jedoch kein effektives Mittel zur Vorbeugung oder Reduktion von Muskelkater.

4. Welche Dehnmethoden gibt es und wofür sind sie sinnvoll?

Trotz der fehlenden Wirkung auf Muskelkater spielt Dehnen weiterhin eine wichtige Rolle in der Sportpraxis. Doch nicht jede Dehnmethode ist für jede Zielsetzung geeignet.

1. Dynamisches Dehnen:

Definition: Rhythmische, kontrollierte Bewegungen durch den gesamten Bewegungsumfang.

Einsatz: Besonders für das Aufwärmen geeignet, da es die Muskulatur aktiviert und die Durchblutung fördert.

Beispiel: Armkreisen, Beinschwingen.

2. Ballistisches Dehnen:

Definition: Schnelles, ruckartiges Dehnen durch Schwungbewegungen.

Einsatz: Früher verbreitet, heute eher selten empfohlen, da es das Verletzungsrisiko erhöhen kann.

Beispiel: Federnde Vorwärtsbeugen.

3. Statisches Dehnen:

Definition: Halten der Dehnposition für 30–60 Sekunden.

Einsatz: Ideal zur Steigerung der Beweglichkeit nach dem Training oder an Ruhetagen. Nicht empfohlen direkt vor intensiven Belastungen.

4. PNF-Dehnen (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation):

Definition: Kombination aus Dehnung und isometrischer Kontraktion.

Einsatz: Sehr effektiv zur Beweglichkeitssteigerung, aber komplex und erfordert Anleitung.

5. Was hilft wirklich gegen Muskelkater?

Wenn Dehnen nicht hilft, was dann? Hier sind einige evidenzbasierte Alternativen:

Aktive Erholung: Leichte Bewegung fördert die Durchblutung und kann Muskelkater lindern. Spaziergänge oder lockeres Radfahren sind hier ideal.

Massage: Studien zeigen, dass Massagen die Muskelspannung reduzieren und die Wahrnehmung von Muskelkater verringern können.

Kälteanwendungen (Kryotherapie): Eisbäder werden in vielen Sportarten genutzt, um die Erholung zu beschleunigen, wobei die Evidenzlage gemischt ist.

Exzentrisches Training: Regelmäßiges exzentrisches Training kann die Muskulatur an Belastungen gewöhnen und Muskelkater langfristig reduzieren.

Regeneration durch Schlaf und Ernährung: Eine ausreichende Nährstoffzufuhr und guter Schlaf unterstützen die Muskelregeneration nachhaltig.

6. Fazit: Dehnen ja, aber richtig

Dehnen ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil eines ganzheitlichen Trainingsprogramms – jedoch nicht als Mittel zur Vermeidung von Muskelkater. Stattdessen sollte der Fokus auf aktive Regeneration, gezieltes Krafttraining und Beweglichkeitsarbeit liegen.

Wenn es um Muskelkater geht, ist das Dehnen also kein Wundermittel, aber in vielen anderen Bereichen ein wertvolles Werkzeug für die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden.

Vielen Dank fürs Lesen!

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